Wilde Agaven, willkommene Würmer
Agavendicksaft aus Mexiko wird als Zuckerersatz immer beliebter, mit schwerwiegenden Folgen für Bauern und Umwelt. Bei Naturland ist das anders.
Denn Naturland zeigt, dass es besser geht: mit Agavendicksaft aus nachhaltiger Wildsammlung. Die Männer, die zwischen Kakteen und stacheligen Sträuchern unterwegs sind, sehen verwegen aus. Sie tragen frisch geschliffene Macheten und Eisenstäbe mit rasiermesserscharfen blattförmigen Klingen. Auf der Suche nach den mitunter fast mannshohen Agaven durchstreifen sie die Wildnis.
Während José Espinoza Molina die trockenen Blätter der Agave abhackt, passt er auf, deren nadelspitzen Enden nicht zu nahe zu kommen. Dann hebt er schwungvoll seine fünf Kilo schwere coa hoch und rammt sie mit Wucht knapp über dem Boden in das Herz der Agave. Ein paar kräftige Schläge - und das saftige Herz der Pflanze ist zum Abtransport bereit.
Willkommen bei der Ernte in der Halbwüste von Zacatecas in Mexiko: So wie José hat auch schon sein Großvater Agaven geerntet. Anders als früher binden sich die Männer zwar keine Jutesäcke, sondern Hebegurte um den Leib, um die Leiste zu schonen. Und sie tragen Schutzkleidung. Doch die Arbeit an sich hat sich nicht verändert. Einen erheblichen Unterscheid gibt es allerdings: Josés Großvater arbeitete noch für den Besitzer der Hacienda Santiago. Er war über Schuldknechtschaft auf Lebenszeit an die Hazienda gefesselt. Erst nach der mexikanischen Revolution und mit der Landreform der 1930er Jahren wurden die Großgrundbesitzer enteignet. Aus der Hacienda Santiago wurde das „Ejido Santiago“, ein 7600 Hektar großes Stück Land, das der Gemeinschaft der Familien der ehemaligen Landarbeiter gehört. Jedes Mitglied darf das Land nutzen, individuellen Besitz hat jedoch keiner daran.
Dass die Familie von José jetzt nicht mehr abhängig war, hieß nicht, dass sie besser lebten. „Ich war zwölf Jahre alt, als ich anfing zu arbeiten. Mein Vater konnte es sich nicht leisten, mich zur Schule zu schicken“, erzählt der 57-Jährige. Die Mitglieder des Ejidos ernteten zwar auf dem weitgehend sich selber überlassenen Land ihre Agaven. Doch sie konnten es sich nicht leisten, ihre Ernte weiterzuverarbeiten, sondern mussten sie den Aufkäufern überlassen. Erst seit ihre Agaven Bio-zertifiziert sind und der daraus verarbeitete Dicksaft höhere Preise erzielt, ernährt die Arbeit von José und seinen Erntekollegen die Familien hier gut.
„Dem Ejido Santiago konnten wir guten Gewissens eine Bio-Zertifizierung geben.“
„Dem Ejido Santiago konnten wir guten Gewissens eine Bio-Zertifizierung geben“, sagt der Mitarbeiter von Naturland in Mexiko, José Matehuala Hernández. „Weil hier noch nie kommerziell angebaut wurde, war eine Umstellung auf Bio-Anbau nicht notwendig. Und dafür, dass die Wildsammlungen nachhaltig bleiben, sorgen nicht nur die Kontrollen durch Naturland, sondern auch die staatlichen Inspektoren des Umweltministeriums.“
Dass José Espinoza und seine Genossen gerne an den Wildsammlungen festhalten, liegt nicht nur an dem höheren Preis für die Bio-Agave. Auf Pestizide zu verzichten, beschert den Familien ein zusätzliches Einkommen: durch den proteinhaltigen Agavenwurm. „Gift zu versprühen wäre dumm, denn dann würde der Agavenwurm verschwinden“, meint José.
„Wenn wir unsere Kühe hüten, sammeln wir nebenbei die Würmer ein."
Richtet der Wurm denn keinen Schaden an? „Doch, das tut er.“ José zeigt auf einen dunklen Kanal, der durch das Herz einer Agave gebohrt wurde. „Aber diese Würmer sind auch sehr nützlich. Wir sammeln und essen sie, um uns mit Proteinen zu versorgen.“ Maden und Insekten zu essen hat in Mexiko eine lange Tradition. Insgesamt gibt es im Land 375 essbare Arten. Doch weil so viele Pestizide verwendet werden, sind sie inzwischen selten und damit teuer geworden.
„Wenn wir unsere Kühe hüten, sammeln wir nebenbei die Würmer ein“, sagt José und beschreibt, wie er mit einer Art langer Häkelnadel die Larven aus den Löchern zieht. „Was wir nicht selber essen, verkaufen wir an einen Zwischenhändler, der sie an Restaurants in der Hauptstadt liefert.“
Das, was José mit seinen zertifizierten Agaven und den Würmern verdient, reicht um eine neunköpfige Familie zu versorgen. „Reich sind wir nicht. Aber wir haben, was wir brauchen.“